Enge Verbindungen zwischen Geburt, Sexualität und Tod
In dem Kapitel über die Möglichkeiten zur Wiedervereinigung mit dem kosmischen
Ursprung habe ich kurz drei Aspekte des menschlichen Lebens erwähnt, die in
besonders enger Verbindung zum transpersonalen Bereich stehen: Geburt, Sexualität
und Tod. Wie wir gesehen haben, stellen alle drei wichtige Zugänge zur Transzendenz
und einzigartige Gelegenheiten zur kosmischen Wiedervereinigung* dar. Dies trifft
in jedem Fall zu, ob unsere Konfrontation mit einem dieser Bereiche nun symbolisch
im Prozeß tiefer innerer Selbsterforschung oder in Situationen des Alltagslebens
stattfindet.
* Man stelle sich einen Stern vor, der weniger hell leuchtet als die anderen
oder der am weitesten vom Zentrum einer Galaxie entfernt ist, und unterstellt
ihm deswegen, er sei nicht mit dem Kosmos vereinigt. Alle Elemente der
Schöpfung sind miteinander vereinigt. Und das Phänomen von Transzendenz
sagt nichts aus über die grundsätzliche Bedeutung eines beteiligten und
ungebundenen Objekts.
Gebärende Frauen und Menschen, die als Helfer oder Beobachter bei der Entbindung
zugegen sind, können eine starke spirituelle Öffnung erleben. Dies gilt besonders dann,
wenn die Geburt nicht in der entmenschlichten Atmosphäre* einer Klinik stattfindet,
sondern unter Bedingungen, die es ermöglichen, ihre volle psychische und spirituelle
Wirkung zu erfahren. Ähnlich kann es ein starker Katalysator mystischer Erfahrungen
sein, wenn man persönlich vom Tod gestreift wird oder in inniger Vertrautheit Zeit mit
Sterbenden verbringt. Und einen Menschen, der einem außerordentlich entspricht,
körperlich zu lieben, kann ein zutiefst spiritueller Vorgang sein und gelegentlich sogar
einen anhaltenden Prozeß der Bewußtseinsentwicklung in Gang setzen. Die enge
Verbindung von Sexualität und Spiritualität ist die Grundlage östlicher tantrischer
Praktiken.
* Eine sehr persönliche Regung. Da würde ich mich eher über den engen
Geburtskanal auslassen oder die sozialen Bedingungen der Kinderaufzucht,
der Bildungs- und Arbeitsstruktur, etc. – wenn ich dank meiner Fähigkeit zu
transzendieren nicht wüßte, wie wichtig traumatisierende Faktoren für die
Entwicklung einer fähigen Psyche notwendig sind.
Abgesehen davon, daß sie innig mit Spiritualität verbunden* sind, können Geburt,
Sexualität und Tod auch als untereinander überlappend erfahren werden. Für viele
Frauen kann eine unkomplizierte Entbindung unter angenehmen Bedingungen die
stärkste sexuelle Erfahrung ihres Lebens sein. Umgekehrt kann ein heftiger sexueller
Orgasmus bei Frauen wie auch bei Männern gelegentlich die Form einer seelisch-
geistigen Wiedergeburt annehmen. Der Orgasmus kann außerdem so überwältigend
sein, daß er subjektiv als Sterben erlebt wird. Der Zusammenhang von sexuellem
Orgasmus und Tod kommt in der französischen Sprache zum Ausdruck, die vom
»kleinen Tod« (la petite mort) spricht. Und das Sterben, vor allem wenn es mit
Atemnot einhergeht, kann eine starke sexuelle Komponente haben.
* Geburt, Sexualität und Tod sind vom Wesen her rein körperliche
Phänomene und von profaner Natur. Was er auf die spirituelle Schiene
schiebt, gehört vielleicht eher zur Psyche und zur Emotionalität. Und er
vergißt die andere, durchaus nicht spirituelle Seite der körperlichen Medaille:
Abtreibung, Vergewaltigung und Mord.
Genauso nah ist das Verhältnis zwischen Geburt und Tod. In fortgeschrittenen Stadien
der Schwangerschaft haben viele Frauen Träume, in denen Todes- und
Zerstörungsmotive vorkommen. Die Geburt ist für die Mutter wie auch für das Kind
ein potentiell lebensbedrohlicher Vorgang. Und die Entbindung kann mit starken
Todesängsten einhergehen, auch wenn sie gar nicht besonders schwierig ist und keine
Lebensgefahr besteht. Das Umgekehrte gilt ebenfalls: Todeserfahrungen können mit
der Geburt bestimmte Elemente gemeinsam haben, besonders das häufig auftretende
Gefühl, einen Tunnel oder Trichter zu passieren und ans Licht zu kommen.
In der Arbeit mit holotropen Zuständen können wir tiefe Einsichten in das Wesen
dieser Verbindungen zwischen Geburt, Sexualität und Tod erhalten. In der
unbewußten Psyche sind diese drei zentralen Bereiche unseres Lebens so eng
verbunden und verflochten, daß es unmöglich ist, einen davon zu erfahren, ohne mit
den beiden anderen in Berührung zu kommen. Dies überrascht, weil wir in unserem
Alltagsleben diese drei Bereiche normalerweise für getrennt halten und uns in
unterschiedlichen Kontexten damit auseinandersetzen. Die Geburt ist etwas, womit
unser Leben beginnt und wozu ein Kind gehört. Der Tod wird, sofern er nicht infolge
einer schweren Krankheit oder eines Unfalls eintritt, in Zusammenhang mit dem Alter
und folglich mit dem Endstadium unseres Lebens gesehen. Die Sexualität im vollen
Sinne des Wortes gehört einer Zwischenperiode unseres Lebens an, deren Kennzeichen
die körperliche Reife ist.
Geburt, Sexualität und Tod im perinatalen Prozeß
Diese herkömmliche Sicht des Verhältnisses zwischen Geburt, Sexualität und Tod
macht tiefgreifende Veränderungen durch, wenn der Prozeß unserer tiefen inneren
Selbsterforschung über die Stufe der Kindheitserinnerungen hinausgeht und bei der
Geburt anlangt, beim perinatalen Bereich der Psyche. Wir stoßen auf Emotionen und
körperliche Empfindungen von außerordentlicher Intensität, die oft über alles
hinausgehen, was wir zuvor für menschenmöglich gehalten hatten. An diesem Punkt
werden die Erfahrungen zu einer seltsamen Mischung aus Geburts- und Todesmotiven.
Sie beinhalten das Gefühl einer drückenden, lebensbedrohlichen Einsperrung und eines
verzweifelten und entschlossenen Kampfes um Befreiung und Überleben. In diesem
nahen Verhältnis von Geburt und Tod auf der perinatalen Ebene spiegelt sich die
Tatsache wider, daß die Geburt ein potentiell lebensbedrohlicher Vorgang* ist. Das
Kind und die Mutter können währenddessen durchaus ums Leben kommen, und es
kann sein, daß Kinder ganz blau vor Atemnot auf die Welt kommen oder daß sie sogar
tot sind und wiederbelebt werden müssen.
* Darüber braucht er mit niemandem streiten. Aber er wird mit mir streiten,
daß im Moment der Geburt oder des Geburtsvorganges das eigentliche
Leben, die Geburt der Psyche, erst beginnt. Denn dann wird die Psyche
geschaffen durch ein körperliches oder “verkörpertes” Trauma, das den
“Himmel” vor der “Hölle” beschützt. Und ich vermute – darüber läßt sich
streiten -, diese Schutzfunktion wird installiert, um den verletzlichen Gefühlen
eines Wesens die Existenz in einer feindlichen Welt zu ermöglichen.
Die Kirche behauptet, die Geburtsschmerzen seien die Strafe für das, was
sie als Erbsünde bezeichnet. Und wenn wir einen Schritt weiter gehen,
können wir das auch auf ein Neugeborenes übertragen. Aber wenn wir einen
“Lieben Gott” postulieren, der eine sinnvolle, fürsorgliche Welt schuf, sind wir
auf dem Weg, in dem Geburtszyklus und seinen Umständen nützliche Aspekte
zu finden.
Das erneute Durchleben verschiedener Aspekte der biologischen Geburt kann sehr
authentisch und überzeugend sein und vollzieht diesen Prozeß häufig mit
fotografischer Genauigkeit nach. Dies kann sogar bei Leuten geschehen, die überhaupt
nichts von ihrer Geburt wissen und denen die elementarsten obstetrischen Kenntnisse
fehlen. Wir können zum Beispiel durch direktes Erleben herausfinden, daß wir eine
Steißlagengeburt waren, daß wir mit der Zange geholt wurden oder daß wir die
Nabelschnur um den Hals hatten, als wir auf die Welt kamen. Wir können die Angst,
das biologische Toben, die physischen Schmerzen und die Erstickungsgefühle
nachempfinden, die bei diesem schreckerregenden Ereignis auftraten, und sogar das
Narkosemittel genau erkennen, das bei unserer Geburt verabreicht wurde. Damit
einher gehen oft diverse Haltungen und Bewegungen von Kopf und Körper, die den
Ablauf einer bestimmten Entbindungsform exakt wiedergeben. Alle diese Details
lassen sich bestätigen, wenn brauchbare Geburtsunterlagen oder zuverlässige
Augenzeugen zur Verfügung stehen.
Der starke Niederschlag von Geburt und Tod in unserer Psyche und die enge
Verbindung zwischen ihnen mag traditionelle Psychologen und Psychiater
überraschen, ist aber eigentlich logisch und leicht verständlich. Die Geburt macht der
intrauterinen Existenz des Fötus brutal ein Ende. Er »stirbt« als ein im Wasser
lebender Organismus und kommt als eine Luft atmende, physiologisch und sogar
anatomisch andere Lebensform zur Welt. Und der Durchgang durch den Geburtskanal
ist selbst eine schwierige und potentiell lebensbedrohliche Situation. Weniger leicht
einzusehen ist, wieso die perinatale Dynamik regelmäßig auch eine sexuelle
Komponente einschließt. Und doch kommt es gemeinhin zu einer ungewöhnlich
starken sexuellen Erregung, wenn wir die Endstadien der Geburt in der Rolle des
Fötus wieder durchleben. Das gleiche gilt für gebärende Frauen, die eine Mischung
aus Todesangst und heftiger sexueller Erregung verspüren können. Diese Verbindung
wirkt merkwürdig und rätselhaft, zumal beim Fötus, und verdient sicherlich einige
Worte der Erklärung.
Es scheint im menschlichen Organismus einen Mechanismus zu geben, der
extremes Leiden, vor allem wenn es mit Erstickungsgefühlen einhergeht, in eine
besondere Form sexueller Erregung umwandelt. Dieser empirisch feststellbare
Zusammenhang läßt sich auch in verschiedenen außergeburtlichen Situationen
beobachten. Menschen, die sich zu erhängen versuchten und im letzten Moment
gerettet wurden, geben oft an, daß sie auf dem Höhepunkt des Erstickungsgefühls eine
nahezu unerträgliche sexuelle Spannung verspürt hätten. Es ist bekannt, daß Männer,
die durch den Strang hingerichtet werden, in der Regel eine Erektion haben und sogar
ejakulieren. Der Literatur über Folter und Gehirnwäsche läßt sich entnehmen, daß
unmenschliches physisches Leiden oft Zustände sexueller Ekstase auslöst. In weniger
extremer Form ist dieser Mechanismus bei sadomasochistischen Praktiken am Werk,
zu denen Strangulieren und Würgen gehören. Bei Flagellanten, die sich regelmäßig der
Selbstgeißelung unterziehen, und bei religiösen Märtyrern, die unvorstellbaren Qualen
ausgesetzt sind, führt der anfängliche extreme Schmerz zunächst zu sexueller Erregung
und schließlich zu ekstatischer Verzückung und transzendenten Erfahrungen.
Erklärt hat er nicht besonders viel.
Ich denke mal, daß über die Sexualität Lust ins Spiel des Leids kommt. Da im
Genitalbereich das Lustzentrum sitzt, und in diesem Bereich auch die
traumatisierende Geburt stattfindet, scheint für die polarisierte Psyche der
Zusammenhang klar zu sein. Auch die örtliche Übereinstimmung* von
Zeugung und Geburt, die Vagina der Frau, weist auf einen Gleichklang von
Leid und Lust hin.
Was ja nicht zwingend notwendig wäre, wenn man Mund und After beim
Nahrungsverwertungprozeß sieht.
Dynamik und Symbolik der perinatalen Grundmatrizen (PGM)
Bis jetzt haben wir uns in erster Linie mit den emotionalen und physischen Aspekten
der Geburtserfahrungen beschäftigt. Doch das Erfahrungsspektrum im perinatalen
Bereich des Unbewußten ist nicht auf Elemente begrenzt, die sich aus den
biologischen Prozessen im Umkreis der Geburt ergeben. Es beinhaltet auch eine reiche
symbolische Bilderwelt, die den transpersonalen Regionen entstammt. Der perinatale
Bereich ist eine wichtige Schnittstelle zwischen der biographischen und der
transpersonalen Ebene der Psyche. Er stellt einen Übergang zu den historischen und
archetypischen Aspekten des kollektiven Unbewußten im Jungschen Sinne dar. Da die
spezifische Symbolik dieser Erfahrungen ihren Ursprung im kollektiven Unbewußten
hat und nicht im individuellen Gedächtnis, kann sie aus jedem geographischen und
historischen Kontext kommen und aus jeder spirituellen Tradition der Welt, ganz
unabhängig von unserem rassischen, kulturellen, schulischen oder religiösen
Hintergrund.
Die Identifikation mit dem Kind, dem die Tortur des Durchgangs durch den
Geburtskanal bevorsteht, scheint den Zugang zu Erfahrungen von Menschen anderer
Zeiten und Kulturen, verschiedenen Tieren und sogar mythischen Figuren zu eröffnen.
Es ist, als würde man durch das Einklinken in die Erfahrung des um seine Geburt
ringenden Fötus eine innige, beinahe mystische Verbindung mit dem Bewußtsein der
menschlichen Spezies und mit anderen fühlenden Wesen erlangen, die in einer ähnlich
schwierigen Lage sind oder waren.
Die innere Konfrontation mit Geburt und Tod scheint automatisch zu einer
spirituellen Öffnung und zur Entdeckung der mystischen Dimensionen der Psyche und
des Seins zu führen. Wie oben erwähnt, spielt es anscheinend keine Rolle, ob diese
Begegnung mit Geburt und Tod in tatsächlichen Lebenssituationen stattfindet, etwa
wenn Frauen entbinden oder jemand eine Todeserfahrung macht, oder ob sie rein
symbolisch ist. Starke perinatale Szenenfolgen in psychedelischen und holotropen
Sitzungen oder im Laufe spontaner seelisch-geistiger Krisen (»spiritueller
Notsituationen«) scheinen denselben Effekt zu haben.
Die biologische Geburt hat drei deutlich verschiedene Phasen. In der ersten wird der
Fötus durch Gebärmutterkontraktionen rhythmisch zusammengepreßt, ohne aus dieser
Lage entkommen zu können, da der Muttermund noch fest geschlossen ist. Durch
anhaltende Kontraktionen zieht sich der Gebärmutterhals über den Kopf des Fötus, bis
der Muttermund für den Durchgang durch den Geburtskanal weit genug geworden ist.
Mit der vollen Öffnung des Muttermundes erfolgt der Übergang von der ersten zur
zweiten Phase der Entbindung, in der der Kopf in die Scheide absinkt und die
allmähliche schwierige Austreibung durch den Geburtsweg beginnt. Und schließlich
kommt das Neugeborene in der dritten Phase aus dem Geburtskanal hervor und wird,
nachdem die Nabelschnur durchgeschnitten ist, ein anatomisch unabhängiger
Organismus.
In jeder dieser Phasen durchlebt das Kind eine ganz bestimmte und typische Reihe
intensiver Emotionen und körperlicher Empfindungen. Diese Erfahrungen hinterlassen
tiefe unbewußte Abdrücke in der Psyche, die später eine wichtige Rolle im Leben der
Person spielen. Verstärkt durch seelisch prägende Kindheitserfahrungen können die
Geburtserinnerungen die Wahrnehmung der Welt formen, das Alltagsverhalten tief
beeinflussen und zum Entstehen verschiedener emotionaler und psychosomatischer
Störungen beitragen. In holotropen Zuständen kann dieses unbewußte Material an die
Oberfläche kommen und voll erlebt werden.
Wenn der Prozeß unserer tiefen Selbsterforschung uns bis zur Geburt zurückführt,
entdecken wir, daß das erneute Durchleben jeder Phase des Geburtsvorgangs mit
deutlich verschiedenen Erfahrungsmustern verbunden ist, die sich durch eine ganz
bestimmte Verbindung von Emotionen, körperlichen Gefühlen und symbolischen
Bildern auszeichnen. Ich bezeichne diese Erfahrungsmuster als perinatale
Grundmatrizen (PGM).
Die erste perinatale Grundmatrix (PGM 1)
Die erste perinatale Matrix (PGM 1) entspricht der intrauterinen Erfahrung
unmittelbar vor der Geburt, und die übrigen drei (PGM II - PGM IV) entsprechen den
drei klinischen Phasen der Geburt, wie sie oben beschrieben sind. Außer Elementen,
die eine Wiederholung der ursprünglichen Situation des Fötus in einer bestimmten
Geburtsphase darstellen, enthalten die perinatalen Grundmatrizen auch trans-
personalen Bereichen entstammende natürliche, historische und mythologische Szenen
mit ähnlichen Erfahrungsmerkmalen. Im folgenden möchte ich die konkreten
Verbindungen zwischen der perinatalen Dynamik und dem transpersonalen Bereich
kurz skizzieren.
Bevor wir uns den Einzelheiten zuwenden, möchte ich noch betonen, daß die
Verbindungen zwischen den aufeinanderfolgenden Geburtsphasen und den ihnen
zugehörigen symbolischen Bildern und Erfahrungen sehr spezifisch und durchgängig
sind. Die Ursache für ihr gemeinsames Auftreten ist mit der herkömmlichen Logik
nicht zu verstehen. Das heißt jedoch nicht, daß diese Verbindungen willkürlich und
zufällig wären. Sie haben ihre eigene tiefe Ordnung, die sich am besten mit dem
Begriff »Erfahrungslogik« umschreiben läßt. Er will besagen, daß der Zusammenhang
zwischen den für die einzelnen Geburtsphasen charakteristischen Erfahrungen und den
damit einhergehenden symbolischen Motiven nicht auf einer formalen äußeren
Ähnlichkeit beruht, sondern auf der Tatsache, daß ihnen dieselben Emotionen und
körperlichen Empfindungen eigen sind.
Im Nachempfinden des ungestörten embryonalen Daseins (PGM 1) erscheinen uns oft
Bilder von großen Weiten ohne Grenzen. Manchmal identifizieren wir uns mit
Galaxien, dem interstellaren Raum oder dem gesamten Kosmos, dann wieder
schwimmen wir für unser Gefühl im Ozean oder werden zu Meerestieren wie Fischen,
Delphinen oder Walen. Die ungestörte intrauterine Erfahrung kann auch in Visionen
einer Natur übergehen, die sicher, wunderschön und bedingungslos nährend ist wie
eine gute Gebärmutter (Mutter Natur). Wir können üppige Obstgärten, Felder mit
reifem Getreide, Anbauterrassen in den Anden oder unberührte polynesische Inseln
sehen. Die Erfahrung der guten Gebärmutter kann uns auch Zugänge in den
archetypischen Bereich des kollektiven Unbewußten eröffnen und Bilder von
Paradiesen oder Himmeln erstehen lassen, wie sie in den Mythologien der
verschiedenen Kulturen beschrieben werden.
Wenn wir intrauterine Störungen neu durchleben, Erfahrungen der »schlechten
Gebärmutter«, haben wir das Gefühl einer dunklen und unheimlichen Bedrohung und
ist uns oft zumute, als ob wir vergiftet würden. Wir können Bilder von verseuchten
Gewässern und Giftmüllhalden vor uns sehen. Darin kommt die Tatsache zum
Ausdruck, daß viele pränatale Störungen durch toxische Veränderungen im Körper der
schwangeren Mutter ausgelöst werden. Die Erfahrung der giftigen Gebärmutter kann
mit Visionen furchterregender dämonischer Gestalten aus den archetypischen
Bereichen des kollektiven Unbewußten gekoppelt sein. Wenn wir gewaltsamere
Zwischenfälle während der vorgeburtlichen Existenz durchleben, etwa eine drohende
Fehlgeburt oder eine versuchte Abtreibung, sind diese gewöhnlich mit dem Gefühl
einer allumfassenden Bedrohung oder mit blutigen apokalyptischen Visionen vom
Ende der Welt verknüpft.
Die zweite perinatale Grundmatrix (PGM II)
Wenn die Rückführungserfahrung beim Einsetzen der biologischen Geburt ankommt,
haben wir in der Regel das Gefühl, in einen riesigen Strudel hineingezogen oder von
einem mythischen Untier verschlungen zu werden. Es kann auch geschehen, daß die
ganze Welt, ja der ganze Kosmos verschluckt wird. Damit einhergehen können Bilder
von verschlingenden oder einfangenden archetypischen Ungeheuern wie Leviathanen,
Drachen, Riesenschlangen, Taranteln und Kraken. Das Gefühl einer übermächtigen
Lebensgefahr kann zu großer Angst und einem allgemeinen, an Paranoia grenzenden
Mißtrauen führen. Wir können auch einen Abstieg in die Tiefen der Unterwelt, das
Reich des Todes oder die Hölle erleben. Dies ist, wie der Mythologe Joseph Campbell
so eloquent ausführte, ein universales Motiv in den Mythologien von der Fahrt des
Helden (Campbell 1968).
Das Durchleben des eigentlichen ersten Stadiums der biologischen Geburt, in dem die
Gebärmutter sich rhythmisch zusammenzieht, aber der Muttermund noch nicht ganz
offen ist (PGM II), ist eine der schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch haben kann.
Wir haben Klaustrophobiegefühle wie in einem monströsen Alptraum, leiden
schreckliche seelische und körperliche Schmerzen und verspüren völlige Hilflosigkeit
und Hoffnungslosigkeit. Unsere Gefühle der Einsamkeit, Schuld, Absurdität des
Lebens und existentiellen Verzweiflung können metaphysische Ausmaße annehmen.
Wir verlieren den Bezug zur linearen Zeit und gewinnen die Überzeugung, diese
Situation werde nie mehr aufhören und es gebe überhaupt keinen Ausweg daraus. Wir
haben keinerlei Zweifel, daß dies, was uns da widerfährt, der Hölle entspricht, wie sie
die Religionen beschreiben - unerträgliche seelische und körperliche Qualen ohne jede
Hoffnung auf Erlösung. Begleitend können tatsächlich Bilder von Teufeln und
infernalischen Landschaften aus verschiedenen Kulturen erscheinen.
Wenn wir in der grausigen Situation der Ausweglosigkeit aus den Fesseln der
Gebärmutterkontrak-tionen sind, können uns Szenen aus dem kollektiven Unbewußten
aufgehen, in denen Menschen, Tiere und sogar mythische Wesen in ähnlichen
qualvollen und hoffnungslosen Nöten sind. Wir identifizieren uns mit Gefangenen in
Kerkern, mit Insassen von Konzentrationslagern oder Irrenhäusern und mit in Fallen
gefangenen Tieren. Wir können die unerträglichen Foltern von Sündern in der Hölle
erleben oder von Sisyphos, wenn er im tiefsten Schlund des Hades seinen Felsen den
Berg hinaufwälzt. Unsere Qual kann zur schmerzgepeinigten Frage Christi an Gott
werden, warum er ihn verlassen habe. Es kommt uns so vor, als läge die Aussicht
ewiger Verdammnis vor uns. Diesen Zustand der Finsternis und der abgrundtiefen
Verzweiflung kennt man aus spirituellen Schriften als die »dunkle Nacht der Seele«.
Von einer höheren Warte aus gesehen ist dieser Zustand trotz der Gefühle völliger
Hoffnungslosigkeit, die er hervorruft, ein wichtiges Stadium der spirituellen Öffnung.
In seiner ganzen Tiefe ausgekostet kann er eine ungemein läuternde und befreiende
Wirkung haben.
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Die dritte perinatale Grundmatrix (PGM III)
Die Erfahrung der zweiten Geburtsphase, der Austreibung durch den Geburtskanal
nach der Öffnung des Muttermundes und dem Absinken des Kopfes (PGM III), ist
ungewöhnlich reich und dynamisch. Den aufeinanderprallenden Energien und dem
Drücken und Pressen bei der Geburt ausgesetzt, werden wir von Bildern aus dem
kollektiven Unbewußten überschwemmt, die uns Titanenkämpfe und Szenen blutiger
Gewalt und Folter vor Augen führen. Während dieser Phase werden wir auch mit
sexuellen Impulsen und Energien von problematischer Art und ungewöhnlicher
Heftigkeit konfrontiert.
Wie schon geschildert, ist die sexuelle Erregung ein wichtiger Teil der
Geburtserfahrung. Damit findet unsere erste Begegnung mit der Sexualität in einem
äußerst prekären Rahmen statt, in einer Situation, wo unser Leben bedroht ist, wo wir
ebenso Schmerz leiden wie Schmerz bereiten und wo wir nicht atmen können.
Gleichzeitig erleben wir eine Mischung aus Todesangst und urtümlichem biologischen
Toben, letzteres eine verständliche Reaktion des Fötus auf diese qualvolle und
lebensgefährliche Erfahrung. In den Endstadien der Geburt können wir auch mit
diversen biologischen Stoffen in Kontakt kommen - mit Blut, Schleim, Urin und sogar
Kot.
Wegen dieser problematischen Assoziationen stellen die Erfahrungen und Bilder, die
uns in dieser Phase kommen, die Sexualität meistens in stark verzerrter Form vor. Die
eigentümliche Vermischung von sexueller Erregung mit körperlichem Schmerz,
Aggression, Todesangst und biologischen Stoffen läßt Szenenfolgen entstehen, die
pornographisch, anomal, sadomasochistisch, skatologisch oder gar satanisch sind.
Dramatische Szenen von sexuellem Mißbrauch, Perversionen, Vergewaltigungen und
erotisch motivierten Morden können uns überwältigen. Hin und wieder können diese
Erfahrungen die Form einer Teilnahme an Ritualen von Hexen und Satanisten
annehmen. Dies scheint mit der Tatsache zusammenzuhängen, daß beim Durchleben
dieser Geburtsphase die gleiche merkwürdige Verbindung von Gefühlen,
Empfindungen und Elementen auftritt, die die archetypischen Szenen der Schwarzen
Messe und des Hexensabbats (Walpurgisnacht) auszeichnet. Sie ist eine Mischung aus
sexueller Erregung, panischer Angst, Aggression, tödlicher Bedrohung, Schmerz,
Opfer und Kontakt mit normalerweise ekelhaften biologischen Stoffen. Dieses
eigentümliche seelische Durcheinander geht einher mit einem Gefühl der Heiligkeit
oder Numinosität, in dem sich die Tatsache ausdrückt, daß sich dies alles unmittelbar
auf der Schwelle zu einer spirituellen Öffnung abspielt.
Dieses Stadium des Geburtsvorgangs kann auch mit zahllosen Bildern aus dem
kollektiven Unbewußten verknüpft sein, die Szenen mörderischer Aggression
darstellen wie brutale Schlachten, blutige Revolutionen, greuliche Gemetzel und
Völkermorde. In allen gewaltsamen und sexuellen Szenen, die uns in diesem Stadium
begegnen, wechseln wir zwischen der Rolle des Täters und der des Opfers hin und her.
Dies ist der Moment einer wesentlichen Konfrontation mit der dunklen Seite unserer
Persönlichkeit, Jungs Schatten, wie oben im Kapitel über Gut und Böse besprochen.
Wenn diese perinatale Phase kulminiert und zur Auflösung drängt, erscheint vielen
Leuten Jesus, der Kreuzweg und die Kreuzigung, oder sie erleben sogar die volle
Identifikation mit den Leiden Jesu. Der archetypische Bereich des kollektiven
Unbewußten trägt zu dieser Phase mythische Heldengestalten und Gottheiten bei, die
Tod und Wiedergeburt verkörpern, etwa den ägyptischen Gott Osiris, die griechischen
Gottheiten Dionysos und Persephone oder die sumerische Göttin Inanna.
Die vierte perinatale Grundmatrix (PGM IV)
Das erneute Durchleben des dritten Stadiums des Geburtsprozesses, des tatsächlichen
Zur-Welt-Kommens (PGM IV), wird in der Regel durch das Motiv des Feuers
eingeleitet. Wir können das Gefühl haben, unser Körper werde von sengender Hitze
verzehrt, Visionen von brennenden Städten und Wäldern haben oder uns mit Menschen
identifizieren, die auf dem Scheiterhaufen geopfert werden. In archetypischen
Versionen kann dieses Feuer die Form der reinigenden Flammen des Fegefeuers oder
des sagenhaften Vogels Phönix annehmen, der in seinem brennenden Nest stirbt und
verjüngt aus der Asche wiedergeboren wird. Das läuternde Feuer scheint alles in uns
zu vernichten, was verderbt ist, und uns zur spirituellen Wiedergeburt bereit zu
machen. Wenn wir den tatsächlichen Augenblick der Geburt neu durchleben, erfahren
wir ihn als völlige Vernichtung und anschließende Wiedergeburt und Auferstehung.
Um zu verstehen, warum wir das Durchleben der biologischen Geburt als Tod und
Wiedergeburt erfahren, muß man sich vor Augen führen, daß das, was mit uns
geschieht, viel mehr ist als bloß die Wiederholung des eigentlichen Geburtsvorgangs.
Während der Geburt sind wir völlig im Geburtskanal eingesperrt und haben keine
Möglichkeit, die dabei auftretenden extremen Emotionen und Empfindungen
auszudrücken. Unsere Erinnerung an dieses Ereignis bleibt somit psychologisch
unverdaut und unverarbeitet. Ein Großteil unseres späteren Selbstverständnisses und
unserer Einstellung zur Welt ist stark von dieser ständigen tiefen Erinnerung an unsere
Verletzlichkeit, Unfähigkeit und Schwäche während der Geburt kontaminiert. In
gewissem Sinne sind wir anatomisch geboren, haben aber die Tatsache, daß die Not
und die Gefahr vorbei sind, emotional noch nicht wirklich eingeholt. Das »Sterben«
und die Qualen während des Ringens um Wiedergeburt spiegeln den Schmerz und die
Lebensgefahr des biologischen Geburtsvorgangs wider. Jedoch der Ichtod, der der
Wiedergeburt unmittelbar vorausgeht, ist der Tod unserer alten, durch die
traumatische Prägung der Geburt entstandenen Vorstellungen davon, wer wir sind und
wie die Welt beschaffen ist.
Indem wir diese alten Programme ins Bewußtsein holen und dadurch unsere Psyche
und unseren Körper davon säubern, vermindern wir ihre energetische Ladung und
beschneiden ihren destruktiven Einfluß auf unser Leben. Von einer höheren Warte aus
gesehen ist dieser Prozeß in Wirklichkeit sehr heilsam und verwandelnd. Aber wenn
die endgültige Auflösung näher rückt, können wir trotzdem paradoxerweise das
Gefühl haben, daß mit dem Abzug der alten Prägungen aus unserem Organismus auch
wir sterben. Manchmal kommt uns das nicht nur wie die persönliche Vernichtung vor,
sondern darüber hinaus wie die Zerstörung der uns bekannten Welt.
Während uns nur noch ein kleiner Schritt von der Erfahrung der radikalen Befreiung
trennt, haben wir eine alles erfassende Angst und das Gefühl einer drohenden
Katastrophe von gewaltigen Ausmaßen. Der Eindruck des unmittelbar bevorstehenden
Weltuntergangs kann sehr überzeugend und überwältigend sein. Das vorherrschende
Gefühl ist, daß wir alles verlieren, was wir kennen und was wir sind. Gleichzeitig
haben wir keine Vorstellung davon, was auf der anderen Seite ist oder ob dort
überhaupt etwas ist. Diese Furcht ist der Grund dafür, daß viele Leute sich in diesem
Stadium verzweifelt gegen den Vorgang wehren, wenn sie können. Infolgedessen
können sie psychisch auf unbestimmte Zeit in diesen problematischen Umständen
steckenbleiben.
Die Konfrontation mit dem Ichtod ist ein Stadium der spirituellen Reise, in dem wir
viel Bestärkung und psychologische Unterstützung brauchen können. Wenn es uns
gelingt, die metaphysische Angst zu überwinden, die an dieser wichtigen Nahtstelle
auftritt, und den Dingen freien Lauf zu lassen, erleben wir die völlige Vernichtung auf
allen erdenklichen Ebenen. Dazu gehören körperliches Zerbrechen, seelisches Fiasko,
intellektuelle und philosophische Ohnmacht, völliger moralischer Schiffbruch und
sogar spirituelle Verdammnis. Während dieser Erfahrung hat es den Anschein, als
würden alle Bezugspunkte, alles, was uns im Leben wichtig und sinnvoll ist,
gnadenlos zerstört.
Gleich im Anschluß an die Erfahrung der völligen Vernichtung, mit der wir
gewissermaßen am »kosmischen Tiefpunkt« angekommen sind, werden wir von
Visionen eines Lichts überwältigt, das eine übernatürliche Strahlkraft und Schönheit
besitzt und meistens als heilig wahrgenommen wird. Diese göttliche Epiphanie kann
verbunden sein mit Erscheinungen herrlicher Regenbogen, durchsichtiger
Pfauenfedermuster und mit Visionen himmlischer Reiche, in denen lichte Engelwesen
oder Gottheiten zu sehen sind. Dies ist auch der Zeitpunkt, an dem wir eine tiefe
Begegnung mit der archetypischen Gestalt der Großen Muttergöttin oder einer ihrer
vielen kulturspezifischen Formen erleben können.
Die Erfahrung, seelisch-geistig zu sterben und wiedergeboren zu werden, ist ein
entscheidender Schritt dahin, unsere Identifikation mit dem “hautumschlossenen Ich”
zu schwächen und wieder Anschluß an den transzendenten Bereich zu gewinnen. Wir
fühlen uns erlöst, befreit und gesegnet und haben ein neues Bewußtsein unseres
göttlichen Wesens und kosmischen Ranges. Wir empfinden in der Regel auch ein
starkes Aufwallen positiver Gefühle gegenüber uns selbst, anderen Menschen, der
Natur, Gott und dem Dasein im allgemeinen. Wir sind von Optimismus erfüllt und
fühlen uns wohl an Leib und Seele.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, daß es dann zu einer derartigen heilsamen und
lebensverändernden Erfahrung kommt, wenn die biologische Geburt nicht zu
kräftezehrend oder von starken Narkosemitteln beeinträchtigt war. Im letzteren Fall
wird das Wiedergeburtserlebnis nicht als ein triumphales Hervorkommen ans Licht
empfunden. Es gleicht dann mehr dem Aufwachen nach einer durchzechten Nacht, bei
dem einem schwindlig und schlecht und das Bewußtsein getrübt ist. Es kann viel
zusätzlichen psychologischen Aufwand kosten, die damit verbundenen Probleme zu
bearbeiten, und die positiven Ergebnisse werden viel unspektakulärer ausfallen.
Der perinatale Prozeß und das kollektive Unbewußte
Aus diesen Beschreibungen können wir ersehen, daß der perinatale Bereich der Psyche
einen inneren Scheideweg von überragender Bedeutung darstellt. Er ist nicht nur der
Treffpunkt von drei absolut wesentlichen Aspekten der menschlichen biologischen
Existenz - Geburt, Sexualität und Tod -, sondern auch die Trennungslinie zwischen
Leben und Tod, Individuum und Gattung sowie Psyche und Geist. Das voll bewußte
Erleben der Inhalte dieses Seelenfeldes bei guter anschließender Verarbeitung kann
weitreichende Konsequenzen haben und zu einer spirituellen Öffnung und tiefen
persönlichen Verwandlung führen.
Gewöhnlich beginnt man den Prozeß der intensiven Selbsterforschung aus sehr
persönlichen Gründen, die therapeutischer Art sein oder auf das eigene emotionale und
spirituelle Wachstum abzielen können. Bestimmte Aspekte der perinatalen Erlebnisse
deuten jedoch stark darauf hin, daß das, was dabei geschieht, in seiner Bedeutung die
kurzsichtigen Interessen des Individuums bei weitem übersteigt. Die Intensität der
auftretenden Emotionen und körperlichen Empfindungen und die häufig
vorkommende Identifikation mit zahllosen anderen Personen aus der ganzen
Menschheitsgeschichte geben diesen Erlebnissen eine ausgeprägt transpersonale
Qualität.
Der folgende Auszug aus der Schilderung einer eindrucksvollen Sitzung, bei der ein
holotroper Bewußtseinszustand erreicht wurde, gibt das Wesen perinataler
Erfahrungen, ihre Intensität und das Ausmaß, in dem sie das kollektive Unbewußte der
Menschheit anzapfen, sehr schön wieder.
Ich war überrascht und überrumpelt davon, wie furchtbar schmerzhaft diese Sitzung
war. Das war nichts Persönliches und hatte mit meiner biologischen Geburt wenig zu
tun. Die Schmerzen, die ich litt, hingen eindeutig erstens mit der Hervorbringung der
menschlichen Spezies und zweitens mit meiner eigenen Hervorbringung zusammen.
Meine inneren Grenzen wurden so weit, daß sie die gesamte Menschheit und die ganze
menschliche Geschichte einbezogen, und dieses »Ich« war in ein Grauen gestürzt, das
genau zu beschreiben ich außerstande bin. Es war ein blindwütiger Wahnsinn, ein
wogendes kaleidoskopisches Feld voller Chaos, Schmerz und Zerstörung. Es war, als
ob die gesamte Menschheit sich von allen Enden des Erdballs versammelt hätte und
vollkommen durchgedreht wäre.
Mit tollwütiger Bestialität, verstärkt durch Science-fictionTechnik, gingen die
Menschen aufeinander los. Viele Ströme liefen vor meinen Augen wild durcheinander,
und jeder bestand aus Tausenden von Menschen, von denen manche auf vielerlei Art
töteten, andere getötet wurden, manche in panischer Angst flohen, manche
zusammengetrieben wurden, andere zusahen und vor Entsetzen schrien, wieder andere
an dem Anblick einer wahnsinnig gewordenen Spezies zerbrachen — und alles, was sie
erlebten, war »Ich«. Das Ausmaß des Sterbens und des Irrsinns läßt sich unmöglich
beschreiben.
Das Problem besteht darin, einen Bezugsrahmen zu finden. Die einzigen Kategorien,
die mir zur Verfügung stehen, sind banale Annäherungen, die nur eine schwache
Ahnung davon geben können.
Dieses Leiden umfaßt die ganze Menschheitsgeschichte. Es ist gleichzeitig
gattungsspezifisch und archetypisch. Es spielt sich in den wildesten Science-fiction-
Horrorwelten ab, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Es erfaßt nicht nur
Menschen, sondern auch Milliarden und Abermilliarden von Materiesplittern in
furchtbaren galaktischen Explosionen. Maßlose Greuel. Es sind Krämpfe, die die
menschliche Spezies, die das ganze Universum schütteln. Mittendrin trieben Szenen
tragischer Katastrophen, verursacht von der Natur und menschlicher Gleichgültigkeit.
Tausende von verhungernden Kindern überall auf der Erde, die Leiber im Tod
aufgetrieben, die Augen leer auf eine Menschheit gerichtet, die sie durch systematische
Umweltschändung und Nachlässigkeit umbrachte. Viel Gewalt zwischen Männern und
Frauen - Vergewaltigung, Schläge, Drohungen, Vergeltungszyklen und
Vernichtungszyklen.
Die Außerordentlichkeit perinataler Erfahrungen wirft einige interessante und
dringende Fragen auf. Wie kommt es, daß wir im Prozeß der tiefen Selbsterforschung
eine Phase erreichen, in der wir unsere individuellen Grenzen transzendieren und uns
in das kollektive Unbewußte und die Gattungsgeschichte einklinken? Woher kommt
dabei die große Nähe zum Tod und das Wiederdurchleben der Geburt? Wie und
warum ist dieser Prozeß so eng mit der Sexualität verbunden? Welche Rolle spielt das
häufige Auftauchen archetypischer Elemente in diesen Erfahrungen? Und schließlich,
welche Funktion und welchen Sinn hat dieser Prozeß, und wie hängt er mit
Spiritualität und Bewußtseinsentwicklung zusammen?
Ich möchte hier auf die Arbeit von Christopher Bache (1996) Bezug nehmen, dessen
Arbeit in diesen wichtigen Fragen einiges geklärt hat. Der Schlüssel zum Verständnis
des perinatalen Prozesses ist nach Bache seine Funktion, uns aus der Enge der blinden
Abkapselung zu befreien und die Erkenntnis unseres wahren Wesens in uns zu wecken,
unserer eigentlichen Identität mit dem schöpferischen Prinzip. Wie der römische Gott
Janus ist der perinatale Bereich von zwiefacher Natur. Je nachdem, aus welcher
Richtung wir ihn betrachten, ob vom Standpunkt des Körper-Ichs oder unseres
transpersonalen Selbst aus, wird er uns ein ganz verschiedenes Gesicht zeigen.
Aus der persönlichen Perspektive gesehen scheint der perinatale Bereich der Keller
unseres individuellen Unbewußten zu sein, ein Reservoir unverdauter Fragmente
derjenigen Erfahrungen, die unser Überleben und unsere leibliche Unversehrtheit am
stärksten bedrohten. Aus diesem Blickwinkel nehmen wir den perinatalen Prozeß und
die ihm eigene Gewalt vor allen Dingen als Bedrohung unserer individuellen Existenz
wahr. Aus der transpersonalen Perspektive erscheint die Identifikation mit dem
Körper-Ich als Produkt fundamentaler Unwissenheit, eine gefährliche Illusion, die für
die Tatsache verantwortlich ist, daß unser Leben unerfüllt, zerstörerisch und
selbstzerstörerisch verläuft. Sobald wir diese fundamentale Wahrheit des Seins
begreifen, sehen wir in den perinatalen Erfahrungen trotz ihres gewaltsamen und
schmerzhaften Charakters radikale und drastische, aber liebevolle Versuche, das
Gefängnis unserer falschen Identität zu zerschlagen und uns dadurch spirituell zu
befreien. Wir werden nicht vernichtet, sondern in eine höhere Wirklichkeit
hineingeboren, wo wir wieder Anschluß an unser wahres Wesen bekommen.
Individuelle Verwandlung und Heilung des Gattungsbewußtseins
Aus der Praxis der Erfahrungstherapie wissen wir, daß wir unser Unbewußtes von den
unverarbeiteten Erinnerungen an seelische und körperliche Schmerzen aus der
Kindheit und dem späteren Leben reinigen können, indem wir sie voll erleben.
Zusammen mit positiven Erfahrungen, die wir dabei machen, befreit uns das von dem
verkrüppelnden Einfluß von Traumata aus der Vergangenheit, die unser tägliches
Leben inauthentisch und unbefriedigend machen. Christopher Bache meint, daß
perinatale Erfahrungen in ähnlicher Weise eine wichtige Rolle in der Heilung von der
traumatischen Vergangenheit der menschlichen Spezies spielen könnten.
Kann es nicht sein, fragt er, daß die Erinnerung an die Gewalt und die unersättliche
Gier, die tief in die menschliche Geschichte eingeschrieben ist, Störungen im
kollektiven Unbewußten verursacht, die die Gegenwart der Menschheit vergiften?
Warum sollte, wenn unser Bewußtsein sich über das Körper-Ich hinaus erweitert, nicht
auch die Heilwirkung über die einzelne Person hinausgehen können? Wäre es nicht
denkbar, daß wir im Erleben der Schmerzen, die zahllose Generationen von Menschen
im Laufe der Geschichte einander zugefügt haben, das kollektive Unbewußte
tatsächlich reinigen und zu einer besseren Zukunft des Planeten beitragen?
In spirituellen Schriften finden sich große Beispiele für individuelle Leiden, die einen
erlösenden Einfluß auf die Welt haben. In der christlichen Tradition ist es Jesus
Christus, der für die Sünden der Menschheit am Kreuz starb. Lebhaft zum Ausdruck
kommt das in dem mythologischen Motiv der Höllenfahrt, das darstellt, wie Jesus in
der Zeit zwischen dem Tod am Kreuz und der Auferstehung zur Hölle niederfährt und
mit der Macht seines Leidens und seines Opfers Sünder aus dem Höllenschlund
befreit. Die hinduistische Tradition räumt die Möglichkeit ein, daß sehr hochstehende
Yogis den Zustand der Welt und die kollektiven Probleme der Menschheit erheblich
positiv beeinflussen können, indem sie diese Probleme innerlich in tiefer Meditation
bearbeiten, ohne leibhaftig ihre Höhlen zu verlassen.
Im Mahäyäna-Buddhismus gibt es das schöne archetypische Bild vom Bodhisattva, der
Erleuchtung erlangt, aber darauf verzichtet, ins Nirväna einzugehen, und statt dessen
einen heiligen Eid leistet, sich so lange immer wieder zu inkarnieren, bis alle
fühlenden Wesen befreit sind. Die Entschlossenheit des Bodhisattva, das Leiden des
verkörperten Daseins auf sich zu nehmen, um anderen zu helfen, kommt in seinem
großen Gelübde zum Ausdruck:
Die fühlenden Wesen sind ohne Zahl —Ich gelobe, sie alle zu retten.
|
Die Tore des Dharma sind viele —Ich gelobe, durch alle zu treten.
Der Buddha-Weg ist der höchste —Ich gelobe, ihn zu Ende zu gehen.
Das Sterben vor dem Sterben
Viele Menschen, die holotrope Zustände erlebt haben, geben an, daß sie die perinatale
Ebene der Psyche als ein Tor zwischen dem transzendenten Bereich und der
materiellen Wirklichkeit sehen, einen Durchgang, der in beide Richtungen führen kann.
Zum Zeitpunkt unserer biologischen Geburt, wenn wir in die materielle Welt
hinaustreten, »sterben« wir für die transzendente Dimension, und umgekehrt kann
unser physisches Ableben als Geburt in die Welt des Geistes aufgefaßt werden.
Die spirituelle Geburt muß jedoch nicht mit dem Tod des Körpers verknüpft sein. Sie
kann jederzeit im Verlauf der tiefen Selbsterforschung oder sogar während einer
spontanen seelisch-geistigen Krise (einer »spirituellen Notsituation«) eintreten. Sie ist
dann ein rein symbolischer Vorgang, ein »Ichtod«, ein »Sterben vor dem Sterben«
ohne jede biologische Schädigung. Abraham a Sancta Clara, ein süddeutscher
Augustinermönch des 17. Jahrhunderts, faßte es in einem Satz zusammen: »Wer eh
stirbt, als er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt.«
Dieses »Sterben vor dem Sterben« spielt in allen schamanischen Traditionen eine
wichtige Rolle. Indem Schamanen in ihren lnitiationskrisen Tod und Wiedergeburt
durchlaufen, verlieren sie die Furcht vor dem Tod, und dieses Erfahrungsfeld wird
ihnen vertraut und normal. Infolgedessen können sie später dieses Reich nach Belieben
besuchen und anderen ähnliche Erlebnisse vermitteln. In den Mysterien um Tod und
Wiedergeburt, die im Mittelmeerraum und anderen Teilen der Alten Welt sehr
verbreitet waren, erlebten die Mysten eine tiefe symbolische Konfrontation mit dem
Tod. Dabei verloren sie die Furcht vor dem Tod und entwickelten eine völlig neue
Wertordnung und Lebensstrategie.
Die Erfahrung des seelisch-geistigen Sterbens und Wiedergeborenwerdens (»zweite
Geburt«, »Geburt aus Wasser und Geist«, ein Dvija werden) spielt in vielen religiösen
Traditionen eine wichtige Rolle. Alle vorindustriellen Kulturen maßen diesen
Erfahrungen in persönlicher wie auch kollektiver Hinsicht große Bedeutung bei und
ersannen sichere und wirksame Methoden, sie in rituellen Zusammenhängen
herbeizuführen. Die moderne Psychiatrie hält die gleichen Erfahrungen für
pathologische Erscheinungen und unterdrückt sie ohne Unterschied, wenn sie heute
spontan bei jemandem auftreten. Diese bedauerliche* Strategie hat wesentlich dazu
beigetragen, daß der westlichen Zivilisation die Spiritualität abhanden gekommen ist.
* Das ist eine “niedere” Emotion. Er sollte lieber nach einer Erklärung
suchen, warum Spiritualität gerade von der christlichen Kirche unterdrückt
wurde – und warum sich diese “Idee” über die ganze Welt verbreiten durfte –
und mußte!
Sexualität: Weg zur Befreiung oder Falle auf dem spirituellen Pfad?
Die Sexualität weist eine ähnliche innere Ambivalenz auf wie Geburt und Tod. Je nach
den Umständen kann sie zu tiefen Vereinigungszuständen verhelfen oder die Trennung
und Entfremdung vertiefen. Welche der beiden Möglichkeiten im Einzelfall eintritt,
hängt von den Umständen und von der Einstellung der Beteiligten ab. Wenn die
Partner, die sich geschlechtlich begegnen, nicht Liebe und Achtung füreinander
empfinden und nur von Instinkten oder dem Drang nach Macht und Beherrschung
getrieben werden, so wird der Geschlechtsverkehr höchstwahrscheinlich ihre Gefühle
der Trennung und Fremdheit verstärken. Wenn die sexuelle Vereinigung zwischen
zwei Partnern erfolgt, die persönlich reif sind und nicht nur biologisch gut zueinander
passen, sondern zwischen denen auch tiefes seelisches Einvernehmen und
gegenseitiges Verständnis bestehen, kann die körperliche Liebe zu einem starken
spirituellen Erlebnis werden. Unter diesen Umständen können die beiden ihre
individuellen Grenzen transzendieren und die Einheit miteinander ebenso wie die
Wiedervereinigung mit dem kosmischen Ursprung empfinden.
Dieses spirituelle Potential der Sexualität ist die Grundlage altindischer tantrischer
Praktiken. Paüchamakära ist eine komplexe tantrische Zeremonie, bei der man starke
ayurvedische Kräutermixturen mit aphrodisiakischen und psychedelischen
Eigenschaften zu sich nimmt. Ein feinsinniges, hochstilisiertes Ritual hilft den
Partnern, sich mit den archetypischen Prinzipien des Weiblichen und des Männlichen
zu identifizieren. Es gipfelt in einer ritualisierten sexuellen Vereinigung über eine
lange Zeit hinweg (Maithuna).
Mit besonderer Übung sind die Beteiligten in der Lage, den biologischen Orgasmus
zurückzuhalten, woraufhin die lange gehaltene sexuelle Erregung eine mystische
Erfahrung auslöst. Im Laufe dieses rituellen Vorgangs transzendieren die Partner ihre
alltäglichen Identitäten. In voller Identifikation mit den archetypischen Gestalten Shiva
und Shakti erleben sie eine heilige Hochzeit, eine göttliche Vereinigung miteinander
und mit dem kosmischen Ursprung. In der tantrischen Symbolik haben verschiedene
Aspekte der Sexualität und der Fortpflanzungsfunktionen wie die genitale
Vereinigung, Monatsblutung, Schwangerschaft und Entbindung nicht nur ihre
wörtliche biologische Bedeutung, sondern verweisen auch auf höhere Ebenen des
kosmischen Schöpfungsprozesses.
Praktische Konsequenzen der Erkenntnisse aus der Bewußtseinsforschung über
Geburt, Sexualität und Tod
Die in diesem Kapitel beschriebenen Beobachtungen haben wichtige praktische
Konsequenzen. Sie deuten stark darauf hin, daß Veränderungen unserer Einstellung zu
der Trias Geburt/Sexualität/Tod und unseres diesbezüglichen Verhaltens einen tiefen
Einfluß nicht nur auf die Qualität unseres persönlichen Lebens, sondern auch auf die
Zukunft der menschlichen Spezies und unseres Planeten haben können. Wir haben
gesehen, daß die Erinnerungen an die pränatale Existenz, die Geburt und frühe
postnatale Ereignisse tiefe Abdrücke in unserem Unbewußten hinterlassen und einen
nachhaltigen Einfluß auf unser Leben ausüben. Es ist daher dringend geboten, daß wir
zukünftig alles tun, was in unseren Kräften steht, um die Bedingungen zu verbessern,
unter denen Kinder gezeugt werden, sich als Embryos entwickeln, zur Welt kommen
und nach der Geburt behandelt werden.
Dies sollte damit beginnen, daß die Sexualerziehung der jungen Generation die
notwendigen Informationen ohne irrationale moralische und religiöse Verzerrungen
und unrealistische Vorschriften, Verbote und Erwartungen gibt. Aber vorurteilslose
technische Angaben über die Fortpflanzungsfunktionen allein wären nicht genug. Es
ist unerläßlich, das Ansehen der Sexualität zu heben, die gegenwärtig als rein
biologische Angelegenheit erscheint und häufig in ihren schlimmsten Ausformungen
dargestellt wird, und ihre spirituelle Grundlage aufzuzeigen. Eine andere wichtige
Aufgabe ist es, die Tatsache klarzumachen, daß der Fötus ein bewußtes Wesen ist.
Dies würde das Gefühl der Verantwortung erhöhen, die man mit der Zeugung eines
Kindes auf sich nimmt, und die Wichtigkeit der seelischen und körperlichen
Verfassung der schwangeren Mutter vor Augen führen. Es wäre auch eine wesentliche
Verbesserung, wenn es mit zur Erziehung junger Erwachsener gehörte, ihre seelisch-
geistige Reife als zukünftige Eltern zu fördern.
Die Entbindung aktiviert in der Regel das perinatale Unbewußte der Mutter, das den
Geburtsvorgang sowohl emotional als auch physiologisch belasten kann. Es wäre
deshalb ideal, wenn Frauen ihre eigene tiefe Selbsterfahrungsarbeit leisten könnten,
bevor sie schwanger werden, damit diese potentiell störenden Elemente aus ihrem
Unbewußten ausgeräumt wären. Besondere Aufmerksamkeit sollte dann auf die
Geburt selbst verwendet werden. Dies würde eine gute psychologische und praktische
Vorbereitung auf die Entbindung, natürliche Bedingungen der Geburt und liebevolle
nachgeburtliche Pflege mit ausreichendem körperlichen Kontakt zwischen Kind und
Mutter einschließen. Es gibt gute Gründe zu der Annahme, daß die Umstände der
Geburt eine wichtige Rolle dabei spielen, einen späteren Hang zu Gewalt und
Selbstzerstörung oder umgekehrt zu liebevollem Verhalten und gesunden
zwischenmenschlichen Beziehungen zu erzeugen.
Der französische Geburtshelfer Michel Odent (1995) hat gezeigt, wie sich diese
perinatale Prägung, die unser Gefühlsleben in Richtung auf Liebe oder auf Haß lenken
kann, aus der Geschichte unserer Spezies verstehen läßt. Der Geburtsvorgang hat zwei
verschiedene Aspekte, und an beiden sind bestimmte Hormone beteiligt. Die
angespannte Tätigkeit der Mutter während der Entbindung selbst hängt primär mit dem
Adrenalinsystem zusammen. Die Adrenalinmechanismen spielten auch in der
Evolution der Spezies eine wichtige Rolle als Vermittler der aggressiven und der
schützenden Instinkte der Mutter zu Zeiten, in denen die Geburt normalerweise in
freier natürlicher Umgebung stattfand. Sie ermöglichten es Frauen, vom Gebären rasch
auf Kampf oder Flucht umzustellen, wenn der Angriff durch ein Raubtier das nötig
machte.
Die andere mit der Geburt verbundene Aufgabe, die vom evolutionären Standpunkt
aus genauso wichtig ist, ist die Herstellung der Bindung zwischen der Mutter und dem
Neugeborenen. Dieser Vorgang erfolgt unter Beteiligung des Hormons Oxytozin, das
bei Tieren und Menschen mütterliches Verhalten bewirkt, und von Endorphinen, die
Abhängigkeit und Anhänglichkeit fördern. Prolaktin, das Hormon, das die
Milchsekretion auslöst, hat ähnliche Wirkungen. Die geschäftige, laute und chaotische
Atmosphäre vieler Krankenhäuser führt zu Beklemmung und reizt die
Adrenalinmechanismen unnötig. Sie prägt das Bild einer Welt ein, die potentiell
gefährlich ist. Wie die Urwaldumgebung der Urzeit fordert eine solche Situation
aggressive Reaktionen heraus. Umgekehrt schafft eine ruhige, sichere und private
Umgebung eine Atmosphäre der Geborgenheit, die liebevolle Zuwendungsmuster
entstehen läßt. Eine radikale Verbesserung der Geburtspraktiken könnte einen
weitreichenden positiven Einfluß auf das seelische und körperliche Wohlergehen der
menschlichen Spezies haben und den Wahnwitz ihres Verhaltens eindämmen, das
derzeit sogar die Grundlage des Lebens auf diesem Planeten zu zerstören droht.
Ich habe die perinatalen Vorgänge bis jetzt nur unter dem biologischen und
psychologischen Gesichtspunkt behandelt. Jedoch die pränatale und perinatale
Geschichte hat auch wichtige Auswirkungen auf unser spirituelles Leben. Wie wir
gesehen haben, bedeuten Inkarnation und Geburt die Trennung und Entfremdung von
unserem wahren Wesen, welches Absolutes Bewußtsein ist. Positive Erfahrungen im
Mutterschoß und nach der Geburt sind dem Göttlichen so nah, wie wir ihm in unserem
Leben als Embryos und als Kinder überhaupt kommen können. Die »gute
Gebärmutter« und die »gute Brust« stellen somit erlebte Brücken zur transzendenten
Ebene dar. Umgekehrt befördern uns negative und schmerzhafte Erfahrungen in der
intrauterinen Periode, während der Geburt und in der frühen postnatalen Periode tiefer
in den Zustand der Entfremdung vom göttlichen Ursprung hinein.
Wenn unsere pränatalen und frühen postnatalen Erfahrungen überwiegend positiv sind,
haben wir gute Voraussetzungen, unser ganzes Leben über eine natürliche Verbindung
zum kosmischen Ursprung zu halten. Wir können die göttliche Dimension in der Natur
und im Kosmos spüren und sind fähig, das inkarnierte Dasein in hohem Maße zu
genießen. Umgekehrt kann, wenn unsere frühe Entwicklung nur eine einzige Serie von
Traumata war, der Verlust der Verbindung zum spirituellen Ursprung so vollständig
sein, daß unser Dasein in der materiellen Welt ein schmerzlicher Leidensweg voll
seelischer Qualen ist.
Ich sollte auch erwähnen, daß sich aus einem extrem schweren Trauma manchmal
eine Situation ergeben kann, in der das Bewußtsein (?) sich vom Körper abspaltet
und in den transpersonalen Bereich katapultiert wird. Dadurch kann ein Fluchtweg
entstehen, der in späteren schwierigen Lebenssituationen regelmäßig als
Schutzmechanismus benutzt wird. Diese Form spiritueller (?) Verbindung kann uns
helfen, uns vor übermäßigem Schmerz zu bewahren, aber sie erhöht die Qualität des
Lebens nicht, da der Mechanismus nicht gut in die übrige Persönlichkeit integriert ist.
Grundlegende Veränderungen sind auch in unserer Einstellung zum Tod nötig. Wir
haben gesehen, daß der Tod eine starke und wichtige Darstellung in unserem
Unbewußten hat. Seine tiefsten Manifestationen sind transpersonaler Art und
erscheinen als zornige archetypische Gestalten und karmische Protokolle
lebensgefährlicher Situationen aus anderen Inkarnationen. Die Erinnerungen an
Lebensbedrohungen im Mutterschoß, während der Geburt und danach sind weitere
wichtige Quellen der Furcht vor dem Tod. Bei vielen von uns kommen dazu noch
Erinnerungen an schwere Traumata, die wir später im Leben bekommen haben. Das
drohende Gespenst des Todes*, das wir in unserem Unbewußten sitzen haben,
beeinträchtigt unser Alltagsdasein und macht unser Leben in vieler Hinsicht
inauthentisch. In technisierten Gesellschaften sind die vorherrschenden Reaktionen
auf diesen Sachverhalt massive Leugnung und Verdrängung, die in der Konsequenz
auf der individuellen wie auch auf der kollektiven Ebene zerstörerisch und
selbstzerstörerisch sind.
* Ich würde hier ganz anders argumentieren. Körper ist ein Produkt von
Geist. Körper entsteht und verfällt, sein Tod ist vorprogrammiert
unausweichlich – er (der Körper) braucht keine Angst davor haben. Trotzdem
ist die Angst ein treibendes Element für Mensch und Gesellschaft – und wenn
Tod als das Ende einer Existenz keine “Bedeutung” für die Entwicklung hätte,
gäbe es keine Angst, und es gäbe die Angst auch nicht, wenn das Problem,
was sie löst, anders zu lösen wäre.
Es ist für die Zukunft der Menschheit unerläßlich, daß wir diese Leugnung
durchbrechen und mit dem Problem der Unbeständigkeit und unserer Sterblichkeit
zurechtkommen. Es gibt alte und moderne Methoden der tiefen Selbsterforschung, die
uns helfen können, uns der Furcht vor dem Tod zu stellen, sie voll ins Bewußtsein zu
bringen und zu überwinden. Wie wir oben gesehen haben, kann uns das »Sterben vor
dem Sterben« die Kanäle in die transzendente Dimension des Seins öffnen und uns auf
eine Reise bringen, die zuletzt zur Entdeckung unserer wahren Identität führen kann.
Dabei können wir eine emotionale und psychosomatische Heilung durchmachen, so
daß unser Leben befriedigender und authentischer wird. Diese tiefe seelisch-geistige
Verwandlung kann unser Bewußtsein auf eine völlig andere Ebene heben und unser
Leben streßfreier und erfüllender machen.
Es ist wichtig, sich über die Existenz und die Natur dieses Prozesses im klaren zu sein
und Menschen, die ihn unabsichtlich in Situationen der Todesnähe oder in spontanen
seelisch-geistigen Krisen (»spirituellen Notsituationen«) erleben, Führung und
Beistand zu geben. Ein weiterer wichtiger Schritt ist, im größeren Maßstab alte und
moderne Methoden der tiefen Selbsterforschung zugänglich zu machen, die es
ermöglichen, diesen Prozeß bewußt zu durchlaufen. Die Gesellschaften der
vorindustriellen Zeit und des Altertums hatten bestimmte Verfahren in Form von
Übergangsriten und Mysterien um Tod und Wiedergeburt, die eigens auf diesen Zweck
zugeschnitten waren. Dank des alten Wissens, das in den letzten paar Jahrzehnten
durch Bewußtseinsforschung, transpersonale Psychologie und Thanatologie
wiederentdeckt wurde, haben wir heute die Möglichkeit, die emotionale Qualität
unseres Lebens wie auch unseres Todes wesentlich zu verbessern.
Menschen, die zu Lebzeiten Tod und Wiedergeburt ins Auge gesehen und Anschluß an
die transpersonale Dimension gefunden haben, glauben mit gutem Grund, daß ihr
leibliches Ableben nicht das Ende ihrer Existenz bedeuten wird. Sie haben auf sehr
überzeugende Weise persönlich erlebt, daß ihr Bewußtsein die Grenzen ihres
physischen Körpers transzendiert und unabhängig davon agieren kann. Infolgedessen
erblicken sie im Tod eher einen Übergang in eine andere Existenzform und ein
ehrfurchtgebietendes Bewußtseinsabenteuer als die endgültige Niederlage und
Vernichtung. Selbstverständlich kann diese Sichtweise an sich schon die Einstellung
zum Tod und die Erfahrung des Sterbens wesentlich verändern. Menschen, die sich der
tiefen Selbsterforschung widmen, haben auch die Möglichkeit, nach und nach mit
vielen schwierigen Aspekten ihres Unbewußten fertig zu werden, mit denen wir uns
andernfalls in der Endphase unseres Lebens befassen müssen.
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